So unsicher ist Afghanistan

Statistiken der UN zeigen, dass Afghanistan auch vor dem Anschlag auf die deutsche Botschaft schon unsicher war

  • Moritz Wichmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Deutschland hat gestern Abend eine Irritation in seiner Abschiebungspolitik erlebt. Nach Protesten gegen die Abschiebung eines afghanischen Berufsschülers aus Nürnberg und einem schweren Anschlag auf die deutsche Botschaft in Kabul erklärte Bundeskanzlerin Angela Merkel, man müsse »noch einmal genau hinschauen«, man werde eine Neubewertung der Sicherheitslage in Afghanistan vornehmen. Doch die hat sich seit Jahren verschlechtert, auch wenn die Bundesregierung bis vor Kurzem etwas anderes suggeriert hat. Das zeigen Zahlen der Vereinten Nationen.

Insgesamt 45.000 Verletzte und und 24.000 Tote hat die UN seit Beginn der Zählung 2009 registriert. Die Zahl der zivilen Opfer in Afghanistan hat sich seit 2009 deutlich erhöht. Rund 3.500 Zivilisten sind demnach 2016 bei Anschlägen und Angriffen in Afghanistan gestorben. Zwar starben letztes Jahr etwas weniger Afghanen als in den beiden Jahren zuvor. Doch vor allem die Zahl der Zivilisten, die durch Attacken verletzt wurden, ist in den letzten Jahren immer weiter gestiegen ist. 7.920 Afghanen waren es letztes Jahr.

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Doch die Forscher zählen konservativ. Nur Fälle, die von drei verschiedenen Quellen bestätigt werden, werden in die Statistik aufgenommen. Insgesamt dürfte die Dunkelziffer deutlich höher liegen.

In den ersten vier Monaten 2017 wurden 2181 afghanische Zivilisten verletzt oder getötet, ein leichter Rückgang von vier Prozent im Vergleich zum ersten Quartal 2016. Der Grund könnte eine andere dramatische Entwicklung in Afghanistan sein, vermutet der neueste UNAMA-Bericht: Die »Rekordzahl« der im Land selbst Vertriebenen, die vor Drohungen, Angriffen und Gewalt fliehen. Laut einem Bericht von Amnesty International waren 2010 rund 350.000 Afghanen im eigenen Land auf der Flucht.

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Seitdem ist die Zahl der Binnenflüchtlinge kontinuierlich angestiegen. 2015 waren es 1,2 Millionen. Mit den 636.000 Afghanen die alleine 2016 im eigenen Land vertrieben wurden, sind in dem 30- Millionen-Einwohner Land nun 1,8 Millionen Menschen auf der Flucht. Seit vier Jahren werden jedes Jahr mehr Menschen in Afghanistan durch die Kämpfe zwischen der Regierung und den Taliban vertrieben. 2016 waren 56 Prozent der Binnenflüchtlinge Kinder.

Die Bundesregierung argumentiert immer wieder, es gäbe auch sichere Regionen in Afghanistan. Ein Blick auf die Daten, die von der UN-Nothilfe zusammengetragen werden, zeigt: In 29 von 34 afghanischen Provinzen gab es 2016 »erzwungene Vertreibungen«. Auch hier sind die Daten unvollständig, weil die Sicherheitslage die UN-Experten an der »Verifizierung des tatsächlichen Umfangs der Vertreibung« hindert.

Von 2011 bis 2015 berücksichtigte die Politik der Bundesregierung die Sicherheitslage in Afghanistan, zumindest in der Tendenz. Die Anerkennungsquote für afghanische Flüchtlinge stieg. 2011 lag sie laut Angaben von Pro Asyl bei 37 Prozent, 2015 hingegen schon bei 78 Prozent. Die Organisation berechnet aus den Daten der Bundesregierung ihre eigene »bereinigte Quote«. In der sind zum Beispiel inhaltlich noch nicht geprüfte Anträge nicht enthalten.

Doch 2016 sank die Quote auf nur noch 60 Prozent, aufgrund von politischem Druck von oben, sagt Bernd Mosevic von Pro Asyl am Freitag dem »nd«. Ob Asylanträge positiv oder negativ entschieden werden entscheiden die Mitarbeiter des Bundesamtes für Migration (Bamf) mittels der »Herkunftsländer Leitsätze«. Doch diese nichtöffentlichen Handlungsanweisungen für die Sachbearbeiter der Behörde geben den Mitarbeitern auch einen gewissen »Ermessensspielraum«. Den habe das 2016 »schnell angelernte« zusätzliche Personal, das unter »großem Erledigungsdruck« stehe, wieder zu Ungunsten der Flüchtlinge genutzt, so Mosevic.

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Im Dezember 2016 erfolgte der nächste Schritt. Die Behörden beendeten den seit Jahren existierenden »stillschweigenden Abschiebestopp«. Unter dem gab es seit 2011 nur zwölf oder weniger Abschiebungen pro Jahr. Mit der Aufnahme von Sammelabschiebungen per Flugzeug im Dezember vergangenen Jahres wurde dann begonnen Flüchtlinge wieder nach Afghanistan abzuschieben. Im Dezember 2016 wurden 34 Flüchtlinge abgeschoben, bei vier weiteren Flügen waren es bis Ende Mai bereits 72.

Am Donnerstagabend erfolgte dann der nächste politische Kurswechsel, zumindest vorläufig. Bis auf Weiteres werde man keine Flüchtlinge nach Afghanistan abschieben, man werde die neue Lageeinschätzung des Auswärtigen Amtes im Juli abwarten, erklärte die Bundesregierung. Doch die diese erhebt keine eigenen Statistiken zu zivilen Opfern in Afghanistan, auch sie nutzt die UNAMA-Daten, interpretiert sie aber anders.

Die Bundesregierung hatte noch Anfang Mai in einer Antwort auf eine Anfrage der Linkspartei erklärt, die Angriffe der Taliban würden »in erster Linie auf Repräsentanten des afghanischen Staates« zielen außerdem hätten die Taliban zur »Schonung von Zivilisten« aufrufen. »Ausreichend kontrollierbar« sei die Sicherheitslage für die Regierung in einem Drittel des Landes, stellt die Bundesregierung in der Anfrage lapidar fest. Es gäbe sichere und unsichere Gebiete in Afghanistan, insgesamt habe die afghanische Regierung die Lage im Griff und Abschiebungen seien daher möglich, so der Tenor der Regierung. Sie lag wohl falsch.

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